Energiemanagement und Agilität

Man könnte jetzt darüber sinnieren, dass zum Singen kein Strom benötigt wird, was also wirklich ein umweltfreundliches Hobby ist. :D

Wenn man sich die Berge an Papier oder die Tablets ansieht, die in den Proben verwendet werden, dazu die Tatsache, dass die meisten mit dem Auto zur Probe fahren - dann sieht die Energiebilanz doch nicht mehr ganz so rosig aus! Daher finde ich die Vision, die ein Funktionär eines Chorverbandes äußerte, dass nämlich jeder die Möglichkeit haben sollte, zu Fuß zum Probenraum des nächsten Chores gelangen zu können, sehr eindrucksvoll!

Ich möchte mich hier aber eher mit dem persönlichen Energiemanagement und der Agilität des Einzelnen beschäftigen.

 

Ein Singender in einem Chorwerk sieht sich vielen Anforderungen gegenüber:

zum einen muss er in möglichst kurzer Zeit die Noten lernen, dazu den Text aussprechen können, den Sinn erfassen, die Sinnabschnitte erkennen (Atmen und Spannungsbogen) und währenddessen am besten noch dem Dirigat des Chorleitenden folgen.

Des weiteren sollte er die musikalisch-spezifische Art des Stückes erfassen (z.B. Klassik=strenges Metrum, Barock=non legato-Koloraturen, Romantik= Agogik oder Popsong= rhythmische Akzentuierung, um nur ein paar Stichworte zu nennen) und entsprechend umsetzen.

Die Performance sollte sowohl dem Stück als auch dem Anlass und dem anwesenden Publikum entsprechen - rhythmisches Mitwippen bei einer Mozartmesse ist ebenso unpassend wie ein "frommes Sängergesicht" bei  "We will rock you" von Queen.

Auch sollte das Agieren des Einzelnen zum Selbstverständnis der Gruppe, also des Chores, passen.

Und dann ist ja auch innerhalb des Stückes stetige Aufmerksamkeit und Flexibilität gefragt: mal gibt es langsame, mal schnelle Passagen; homophone wechseln sich mit poyphonen Stellen ab, mal habe ich die Hauptstimme, mal begleitende Funktion; mal muss ich strikt im Metrum bleiben, mal auf das agogische Dirigat des Chorleiters achten und dieses umsetzen; mal singe ich laut, mal leise, mal akzentuiert, dann wieder weich und legato, etc.

 

Na - gestresst alleine vom Lesen??!!

 

Wer im Chor singt, der macht das alles nicht nur dauerhaft und selbstverständlich, sondern hat auch noch Spaß dabei!

Der Begriff des "lebenslangen Lernens" wird hier konkret - und vor allem: positiv! - erfahrbar, denn ich erlebe mich als Teil einer lernenden Gruppe, die sich gemeinsam weiterentwickelt, die eine Gruppendynamik in Zielrichtung auf das gemeinsame Tun hin entwickelt, ich darf mich in manchen Momenten als Kompetenz erleben, im nächsten als Mitläufer - sprich: als Teil eines funktionierenden Teams. Und wenn die Chorleitung gut ist, habe ich dabei noch unheimlich viel Spaß - besonders bei "Fehlern", die in gemeinsamem Gelächter und guten Impulsen, um diese zu überwinden, münden - und fühle mich als wichtiger Teil des Ganzen, dessen Kompetenzen genauso wie die Schwächen wahrgenommen und in ihrer Gesamtheit als Beitrag zur Zielerreichung (="wir lernen das Stück") verstanden werden.

 

Dazu kommt das persönlich-zeitliche Energiemanagement: in Momenten, wo meine Stimmgruppe nicht singt, kann ich meine Stimme schonen, dafür meine Ohren öffnen und durch zuhören z.B. den Text oder den Rhythmus mitlernen - oder ich weiß einfach, was um mich herum musikalisch so los ist, wenn ich nachher wieder mitsinge.

Mit anderen Worten: ich lerne, kurze Zeiten der "Untätigkeit" als schöpferische Pausen zu nutzen, kann meine Kapazitäten in dieser Zeit anders einsetzen und dafür die sonst benötigten Resoourcen (Stimme und Atmung) etwas schonen.

Bleibe ich mental am Ball, muss ich später nicht mühsam erst die "Systeme wieder hochfahren", sondern war quasi im Standby-Modus, um Energie zu sparen. Wenn ich als Chorleitender diese Fähigkeit durch schnell aufeinanderfolgendes Abrufen einzelner Stimmgruppen immer wieder anfordere, lernt der Chor, nicht komplett abzuschalten. Dadurch kann ich deutlich effektiver proben - alleine durch die Tatsache, dass es nicht so lange dauert, bis alle wieder "online" sind.

Auch die Gehinrnforschung sagt uns, dass das Gehirn abschaltet, wenn es zu vorhersehbare Abfolgen gibt oder die Pausen zu groß sind. Stelle ich also als Chorleitung immer wieder Fragen zum Inhalt, zum musikalischen Aufbau oder ähnlichem oder probe ich kleinteilig in immer unterschiedlichen Kombinationen, bleibt der Chor "wach" und mental dabei; musikalische Zusammenhänge werden besser hörbar und damit klarer und das musikalische Gefüge des Chorstücks kann von allen ganz intuitiv erfasst werden, ohne dass man besondere musikalische Bildung mitbringen muss.

 

Im Chor kann ich also als MItwirkender erleben, dass Agilität ein - wenn auch anstrengendes - reizvolle System ist, das schnell und spannend zum Erfolg führt. Ich erfahre, dass Wartezeiten nicht mit Langeweile gleichzusetzen sind, sondern dass ich diese erzwungenen Pausen auch für meine Zielsetzung nutzen und mich dadurch ganzheitlich gefordert fühlen kann.

Ich lerne also, Verantwortung für mein Aktions- und Energiemanagement zu übernehmen, kann dadurch das Ohnmachtsgefühl bei etwaigen Wartezeiten überwinden und sie stattdessen als geschenkte Zeit wahrnehmen lernen und werde somit gleichzeitig zufriedener und effektiver. Und daraus folgend kann ich auch leichter richtig abschalten, wenn ich wirklich Pause habe - denn ich weiß, dass es in meiner Hand liegt, ob ich aktiv und aufnahmebereit bin oder ob ich einfach mal regenerieren möchte.

 

 

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