Wenn Du Deinem Chor Aufgaben stellst, die er nicht bewältigen kann, wird er bestenfalls inspiriert sein, weil Du ihm eine Ahnung davon vermittelst, wie viel MEHR noch möglich ist - aber viele werden auch frustriert sein, weil sie nicht den Weg sehen können, der dorthin führt. "Ich kann nunmal nicht - improvisieren, -lauter singen, - jeden Ton richtig treffen, - den Text auswendig...."
Um diese mentale Haltung verlassen zu können - denn darum handelt es sich, nicht etwa um ein Faktum -, brauche ich zuerst eine sichere Basis, von der aus ich mich schrittweise und in meinem Tempo fortbewegen kann. Und ich brauche einen Plan, damit ich einschätzen kann, wie ich meine Energien einteile.
"Und wie soll ich als Chorleitung das vermitteln?" wirst Du Dich vielleicht fragen.
Wichtig ist, dass erstmal Du für Dich einen Plan hast, was GENAU Du erreichen willst. Ist die Intonation Dein Thema? Hört sich Dein Chor zu langweilig an? Hast Du Dich schon mal um die Dynamik gekümmert? Verstehst Du die Worte nicht, die Dein Chor singt?
Versuche, für jedes Mal, wo Dein Chor singt, eine genaue Arbeitsanweisung zu geben: "Wir versuchen jetzt, alle genau gleichzeitig die Silbe zu wechseln." "Versuchen wir mal, dass wir am Ende dieser Phrase möglichst wenig gesunken sind - am besten gar nicht". "Wir singen einmal den ersten Akkord an und versuchen dann, gleichzeitig lauter zu werden, ohne, dass eine Stimme herauszuhören ist".... usw. - Dir fallen bestimmt noch viele andere Ansätze ein, die Du zwar im Laufe des Gesanges Deines Chores als verbesserungswürdig kurz angedacht hast, bis zum Ende aber wieder verworfen.
Leider! Nimm diese Impulse doch ernst! Und kommuniziere sie mit Deinem Chor. Es ist erstaunlich, wieviel Änderungspotential in der Interpretation deines Chore liegt. Und wenn Du so genaue Wünsche formulierst, werden viele davon auch in Erfüllung gehen - weil Deine Sängerinnen und Sänger Dir vertrauen, es "richtig" machen wollen und sich das auch zutrauen, da Du Ihnen diesen Wunsch ja anvertraut hast.
So können Sie aus dem Gefühl der Sicherheit heraus (einem gewissen Vertrauensvorschuß) ihre selbstgewählten Grenzen verlassen und sich auf künstlerisch und interpretatorisches Neuland begeben.
Aber VORSICHT, wenn auf Anhieb etwas ganz anderes herauskommt, als Du Dir vorgestellt hast!
Bitte gib dem Impuls nicht nach, den Chor dafür verantwortlich zu machen - sie haben ihr Bestmögiches gegeben, das ist sicher!
Was Du zu hören bekommst, ist genau die Antwort auf Deine Aussage. So kann es für Dich eine ideale Möglichkeit sein, zum einen herauszufinden, was Du formuliert hast - und zum anderen auch Deine Vorstellung in Frage zu stellen.
Versuche das Ganze als Dialog aufzufassen, wo jede Seite ihre Impulse und Ideen einbringt und ihr zusammen eine gemeinsame Lösung erarbeitet. Und auf dieser Grundlage kannst Du Deine Vorstellung verfeinern, suchst Dir EINEN Aspekt heraus, der Dir gerade besonders wichtig erscheint - und LOBST natürlich auch, wenn sich alle besonders um diesen einen Punkt bemüht haben, selbst, wenn dabei andere Dinge (wieder) schief gegangen sind. Meist haben Deine Leute das selbst gemerkt und so muss es nicht weiter erwähnt werden, sondern wird beim nächsten Mal automatisch wieder verbessert. Und wenn nicht, kannst Du immer noch mal nachhaken.
Auf diese Weise erreichst Du, dass ihr gemeinsam immer mehr wegkommt von den falsch/richtig-Kategorien hin zu der öfter erwähnten Werktstatt-Atmosphäre, in der ihr gemeinsam am Gesamtkunstwerk "der Chor singt ein Stück" arbeitet. Und dadurch gibt es keinen Raum für Unsicherheit. Dein Chor fühlt sich also sicher - und hat damit Kapazitäten frei, um sich mit Dir gemeinsam auf mehr Freiheit einzulassen!
Zu dem Aspekt der Freiheit liest Du mehr im nächsten Blogeintrag.
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