Ich vermisse meinen Chor!

Wie ihr in den letzten beiden Blogbeiträgen lesen könnt, gibt es viele positive Argumente für das Ausweichen auf Online-Plattformen für die Chorproben. Das Schönste und simpelste ist: weil es mehr ist, als nichts zu tun!

Trotzdem kann es sein, dass ihr keinen Zugang dazu findet, dass ihr euch das nicht zutraut oder einfach mißtrauisch seid, wenn alle so von diesen "Online-Proben" schwärmen.

Um einen möglichst umfassenden Einblick zu bekommen, habe ich hier die Argumente dagegen aufgeschrieben.

Wie erwähnt: bei mir ist es so, dass ich mit der einen Hälfte der Chöre die Onlineplattform nutze, mit der anderen nicht!

 

Hier also, was dagegen sprechen kann:

 

1."Chor" im üblichen Sinne ist nicht möglich

Das ist wohl das gravierendste Gegenargument! Wenn Dein Chor erwartet, dass alles so bleibt, wie es war, ist die Enttäuschung vorprogrammiert! Es macht zwar den meisten Leuten Spaß, die anderen wieder zu sehen - aber der Spaß kann entweder durch technische Probleme getrübt werden oder sogar ziemlich wehtun, weil man dann erst so richtig spürt, was man vermisst. Das zwanglose Plaudern mit den anderen während der Probe kann man zwar theoretisch nebenbei im Chat machen - wird man aber meist nicht tun, weil die Situation eine ganz andere Konzentration und Disziplin fordert. Und so kann es auch gut sein, dass jemand, der sowieso im Alltag eingespannt ist, die Online-Chorzeit eher als zusätzlichen belastenden Termin als als Bereicherung empfindet. Es geht ja auch primär darum, zu lernen - und nicht wie sonst, Gemeinschaft zu erfahren und sich von den anderen mittragen zu lassen.

 

2. keine Kontrollmöglichkeiten für Stimmtechnik und Genauigkeit

Wenn ich normalerweise als Singender nur in der Gruppe singe, kann es sehr erschreckend und beklemmend sein, mich nur alleine zu hören. Wer ein "Mitsänger" ist, für den ist das Alleineproben eine Herausforderung. Wer es nicht gewohnt ist, sich selber ständig zu kontrollieren oder wem das für ein Hobby zu anstrengend ist, der wird entweder keinen Spaß haben oder im schlechtesten Fall technisch falsch singen und sich damit die Stimme ruinieren. Das kann zwar auch im Chor vorkommen - aber meistens hört man früher oder später als Chorleitung doch, dass da jemand seiner Stimme Gewalt antut und kann mit entsprechenden Ansagen gegensteuern.

Und dann gibt es da noch diejenigen, die sich keine Gedanken machen, einfach mitträllern und vielleicht meinen, sie können alles. Sollten wir eines Tages dann wieder zusammentreffen, wird es ein böses Erwachen geben - im Zweifel erst dann, wenn du als Chorleitung sagen musst, dass da außer viel Lust und Schwung nicht viel Schönes oder Richtiges zu hören ist...

 

3. Als Chorleitung bist Du wieder mehr Vortragender

Nachdem ich in vielen Blogeinträgen dafür geworben habe, dich nicht in der Position des Alleinunterhalters und "Ansagers" einzurichten, sondern immer in Interaktion mit deinem Chor zu gehen, macht die Form des Online-Übens genau das Gegenteil: Du wirst zum alleinigen Vorturner. Man könnte sagen, es ist nur fair, dass jetzt diejenigen, denen das sowieso lieber ist, einmal Oberwasser haben - nur ist das weder für die einen noch die anderen eine Entscheidung, sondern einfach Tatsache und das nimmt dem Ganzen doch irgendwie den Spaß. ;-)

Für mich als Menschen, der sehr empathisch an Chorproben und seine Singenden herangeht, der meistens nur eine grobe Idee hat, wie die Probe laufen soll und das meiste im Ablauf der erfühlten Stimmung und der Tagesform der Anwesenden überlasse, bedeutet das, dass ich quasi auf keine meiner Kernkompetenzen zurückgreifen kann, sondern mich als Leitung wieder einmal ganz neu erfinden muss. Natürlich ist das irgendwie auch eine Chance, ich bleibe agil und kann andere Seiten an mir wieder neu entdecken und ausprobieren - aber es ist auch erstmal unheimlich viel Arbeit und Energie nötig!

Bei den Onlinesessions musst Du alle Ansagen treffen - wie der Vorturner bei Telegym oder wie der Tourguide im Bus - und hoffen, dass das, was du als wichtig zu erwähnen erachtest, von den anderen auch so erlebt wird. Natürlich kannst du immer mal nachfragen und dein Chor wird dir mit einem Daumen hoch oder runter auch ein kleines Feedback geben - aber das kann höchstens grob die Richtung zeigen, denn die Erfahrung lehrt, dass die Menschen jenseits des Monitors viel weniger auskunftsfreudig sind als von Angesicht zu Angesicht.

Das bedeutet auch, dass Du noch vielmehr als bisher die Last der Selbstreflektion zu tragen hast. Du spürst mehr Verantwortung und bekommst hinterher weniger mit, ob Dein Tun auch Nutzen gebracht hat. Dein Job ist also NOCH einsamer als ohnehin schon.

 

4. Kein Klangerlebnis, keine Arbeit am Ton

Das gravierendste Erlebnis und der augen- bzw. ohrenfälligste Unterschied zu "normalen Proben" ist wohl, dass der Chorklang fehlt.

Also genau das, was für Gänsehautmomente sorgt, was das PLUS eines Chores im Vergleich zu anderen Hobbys oder zum Gesangsunterricht ist, findet überhaupt nicht statt!

Und auch das, was in der Probenarbeit das Schönste ist, woran wir unsere Qualität messen - die Arbeit am individuellen Klang von Vokalen oder Passagen und dann auch das gemeinsame Suchen nach dem idealen Klang für die jeweilige Stelle - KANN nicht stattfinden. Genau das sorgt bei vielen für großen Frust und manch einer sagt: "da übe ich lieber alleine vor mich hin, als mir hierfür extra die Zeit zu nehmen!" Und auch das ist verständlich.

 

5. Datenschutzbedenken, Ausgrenzung von Nichttechnisierten

Einen sehr wichtigen Punkt sollten wir auch noch betrachten:die Tatsache, dass die Digitalisierung nicht für jeden selbstverständlich ist und es durchaus auch Bedenken gibt, sich und sein Equipment einer Vernetzungssoftware anzuvertrauen.

Tatsächlich muss man sich schon ziemlich damit beschäftigen, welches Programm auf welchem Wege Zugriff auf welche Bereiche des Computers hat, um eine fundierte Aussage zur Sicherheit treffen zu können - ich kenne mich da im Detail nicht aus und vertraue Einschätzungen der Informierten in meinem Umfeld. Wir wissen aber alle auch, dass es zum Teil einfach Abwägung ist, wieviel Risiko ich eingehen will um einen gewissen Nutzen zu haben. Insofern sollte es in Ordnung sein, diese Bedenken zu haben und zu äußern. Man kann versuchen, durch Aufklärung und andere Teilhabe wie Telefonteilnahme oder Mitschnitt des Meetings den ein oder anderen noch mit ins Boot zu holen.

Wer aber kein Internet hat (oder zu langsames) oder prinzipiell nicht technisch ausgerüstet ist, der ist raus bei diesen Möglichkeiten. Das sollte uns sehr bewusst sein und auch Thema im Austausch mit unserer Vorstandschaft - und wir sollten über Ausgleichsmöglichkeiten wie Brennen des Mitschnitts auf CD o.ä. nachdenken.

ALLE Chormitglieder sollten zumindest spüren können, dass man sie mit dazuzählt und dabei haben will - und dass keiner zurückgelassen wird!

 

6. Zeitfresser Technik

Dieser letzte Punkt betrifft uns Chorleitungen ganz besonders. Denn wenn ihr - so wie ich - vorher noch nichts mit Übetracks, Onlinemeetings etc. am Hut hattet, bedeutet das, erstmal sehr viel Zeit zu investieren, sich damit vertraut zu machen.

Ich werde 2020 als "Jahr der Fortbildung" in meiner Vita abspeichern... ;-)

Aber selbst, wenn man langsam fitter wird im Umgang mit der Technik, brauchen die Dinge trotzdem ihre Zeit in der Vorbereitung. Auch hier wieder: ich lerne normalerweise die meisten Stücke erst so richtig WÄHREND der Proben kennen.

Ich habe eine grobe Idee vom Stück - der Rest kommt beim langsamen Proben, dauernden Vorsingen und Hinhören. So lernen wir gemeinsam und mit- und aneinander - normalerweise.

JETZT muss ich das Stück mitsamt der Interpretation, allen Abphrasierungen und Tempowechseln GENAU im Kopf haben, bevor ich überhaupt anfangen kann, einen Guidetrack - also einen Film meines Dirigats, den ich dann mit entsprechend eingespieltem Chorsatz kombiniere - erstellen kann. Bei Popstücken kann man nach dem Metronom (klick) einspielen, da geht das besser - aber bei agogischen Stücken funktioniert das nicht. Bis ich dann 1000mal wieder versuche, die Stelle im Film mit der Stelle, wo ich aufnehmen will, zu kombinieren - oder bis ich zuerst den Film samt eingespieltem Chorsatz zusammengeschitten habe, um dann ENDLICH die einzelnen Stimmen einzusingen, wo ich beim Nachhören natürlich den ein oder anderen Ton oder textlichen Fehler entdecke, den ich dann erneut einsingen, entsprechend reinschneiden muss - und bis dann alles soweit fertig ist, dass es irgendwie an meine Chormitglieder kommen kann, damit wir dann online üben können - das ist richtig Lebenszeit, die da draufgeht!

Sich erstmal die Technik zu besorgen, sich zu informieren, was man braucht, was nicht - und was das kostet! -, davon rede ich noch gar nicht.

Fazit: es ist ein Riesenaufwand und man muss das schon wollen und damit rechnen, dass man das auch in Zukunft braucht.

 

7. Abrechnung?

Der letzte Punkt hängt vor allem mit dem vorherigen zusammen. Denn die Frage, die sich auch bisher schon immer gestellt hat, ist ja: wie rechnen wir unseren Aufwand mit unserem Chor ab?

Und nachdem wir jetzt das Vielfache an Zeit aufwenden müssen - ist das vom Vorstand gewünscht, wird das mitgetragen?

Und wenn ja, was und wieviel?

Diesen Punkt sollte man in der Frage, ob der Chor online üben will, unbedingt mit ansprechen. Denn nachdem es so viele tolle "virtual choir"-Videos überall gibt und allenthalben von "Online-Proben" gesprochen wird, ist es nicht verwunderlich, wenn viele meinen, man macht einfach, was man immer macht - nur halt im Netz.

Dass dahinter aber so unendlich viel Arbeit, Know-how, Fortbildungs- und Umgewöhnungswillen aller Beteiligten steckt, kann man nicht ohne weiteres erkennen.

 

Daher auch hier wieder der Wunsch: Ob ihr euch nun FÜR oder GEGEN das Mittel des Online-Übens entscheidet - redet darüber!

Erklärt eure Argument, redet davon, was es euch an Mühe und Aufwand kostet.

Nur so können wir der Welt jenseits des Kulturbetriebs klar machen, wieviel Wert in unserer Arbeit liegt, wieviel Engagement und wieviel Können auch jenseits des Singens!

Bleibt in guter Stimmung - analog, digital oder beides! :)) #staytuned

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